Weihnachtsmarkt in Winkelhausen: 13. Dezember

13-12-1315. Oktober

Sie waren wieder in dem Klassenzimmer. Annegret las, die anderen hörten gespannt zu.

„Ludwig wachte am nächsten Morgen ziemlich verkatert auf. Er erinnerte sich an einen Stromausfall. Währenddessen musste er eingeschlafen sein, denn er erinnerte sich an einen verwirrenden Traum, in dem ein Bleistift, der von alleine schrieb, vorkam. Bloß gut, dass er rechtzeitig aufgewacht war, um den Bericht für die Zeitung zu schreiben und abzusenden. Allerdings ließ ihm der Traum keine Ruhe. Er war so real gewesen. In Zukunft trinkst du besser gar nichts mehr auf solchen Veranstaltungen, wenn dich schon ein Glas Sekt dermaßen aus den Schuhen haut, dachte er bei sich. Dann ging er mit seinem Kaffeebecher in sein Arbeitszimmer. Er brauchte heute nicht in die Redaktion zu fahren. Er hatte Außendienst, das hieß, dass er irgendwo in der Stadt recherchieren musste und seinen Auftrag per e-Mail bekam. Als er jedoch an seinen Schreibtisch trat, stockte ihm der Atem. Da lag, mit Bleistift geschrieben, ein Bericht über die Obdachlosen unter der Autobahnbrücke. Das gab es doch nicht. Also war dieser wirre Traum wahr gewesen. Ludwig beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. In seiner Mail bekam er den Auftrag, am Nachmittag über den Weihnachtsmarkt zu schreiben und vormittags sich nach einer Story umzusehen.

Alles klar, dachte er, Obdachlose sind auch eine gute Story, vorausgesetzt, dass es sie wirklich gibt.

Es gab sie. Unter der Autobahnbrücke fand er sie alle, wie es der Bleistift beschrieben hatte. Menschen, die aus verschieden Gründen auf der Straße lebten und nicht in die Notunterkünfte gehen wollten oder konnten.

Martha, deren Haus abgebrannt war . Sie konnte sich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten.

Tom, der Martha nicht allein lassen wollte.

Julia, die immer wieder laut schreien musste, niemand wusste, warum.

„Sie muss etwas schreckliches erlebt haben“, flüsterte Martha, „immer wieder hat sie Alpträume.“

Dann war da Markus, der immer wieder trank. „Weißt du, wenn ich trinke, ist diese beschissene Welt wieder schön“, nuschelte er und bot Ludwig etwas aus seiner Flasche an.

Und Ella, die die Nähe von Menschen nicht ertragen konnte. Selbst in dieser kleinen Gruppe hielt sie sich abseits.

Sie alle wirkten vernachlässigt und ungepflegt. Es waren Menschen, nach denen sich kaum jemand umdrehte,  ja, die man nach Möglichkeit übersah. Aber Ludwig hatte noch nie so viele erschütternde Schicksale auf einem Haufen gesehen. Sie taten ihm leid und gleichzeitig bewunderte er ihre Gemeinschaft, in der sie ihr Schicksal teilten und einander ohne Vorurteile annahmen. Er beschloss, dass die Geschichte aus dem Bleistift in die Zeitung musste.

„Das ist gar nicht dein üblicher Stil“, sagte der Chefredakteur, „aber die Geschichte ist gut. Wir werden sie ungekürzt abdrucken.“

Annegret brach ab. Alles schwieg. Dann sagte der der junge Mann mit der Diplomarbeit:

„Ich wusste nicht, dass so tolle Geschichten in Dir stecken! Das ist einfach Boah! Aber das kann doch jetzt nicht alles gewesen sein! Ich dachte, der Abend verändert Ludwigs Leben. Was passiert denn als nächstes?“

Annegret wurde über und über rot. „Ich hatte Angst, dass es schon zu lang ist. Aber ich habe noch mehr geschrieben.“

„Vorlesen, vorlesen, vorlesen!“, riefen alle.

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