„Sind wir richtig?“, fragte Klara aufgeregt, als die Kinder und der Weihnachtsmann in einem unbekannten Raum landeten. Es war schummrig in dem Raum, nur einige Kerzen und ein flackerndes Feuer in einem Kaminofen erhellten den Raum. Einzig eine kleine Leselampe leuchtete für den jungen Mann, der Annegrets Bleistiftgeschichte so gemocht hatte. Er hatte anscheinend gerade mit seiner Geschichte angefangen.
„Wir sind hier richtig, aber eine Geschichte haben wir schon verpasst. Aber der junge Mann hat gerade angefangen vorzulesen. Seine Geschichte heißt :
Weihnachten im Schnee
Am besten macht ihr es euch auf dem Sofa da hinten bequem, denn sie ist ziemlich lang. Es kann sein, dass wir sie heute auch nicht ganz bis zu Ende hören können. Ich werde tun, was ich kann.“
Die Kinder kuschelten sich auf das Sofa und hörten dem jungen Mann zu, der begann:
Tom starrte aus dem Fenster. Draußen wirbelte der Schnee. Er fiel so dicht, dass man nichts sah, als eine weiße Wand. Dazu heulte der Sturm. Wo Mama nur blieb? Sie wollte nur kurz ins Nachbardorf fahren, um den Weihnachtsbaum zu holen.
„Ich kann euch dieses Jahr nicht mitnehmen“, hatte sie gesagt, „es schneit schon den ganzen Tag und Lena ist einfach zu erkältet, um durch den Schnee zu waten. Ihr beiden deckt den Tisch recht schön und wenn ich wiederkomme, trinken wir gemütlich Kaffee. In längstens zwanzig Minuten bin ich zurück.“
Das war jetzt fast zwei Stunden her und langsam wurde es dunkel. Mama war keine zehn Minuten weg gewesen, als der Schneesturm losbrach. Tom sorgte sich. Was war, wenn Mama eingeschneit war? Wenn das Auto im Schnee stecken geblieben war? Wenn sie nicht mehr wieder kehrte?
Lena kam und quengelte. „Wo ist Mama? Ich habe Hunger.“
Tom fand, dass er jetzt eine Entscheidung treffen musste.
„Ich habe auch Hunger. Mama wurde sicher aufgehalten. Vermutlich wartet sie irgendwo ab, bis der Schneesturm nachlässt. Sie würde nicht wollen, dass wir weiter auf sie warten. Mach doch mal die Weihnachtslieder-CD an und ich stelle den Kakao in die Mikrowelle.“
„Warum ruft sie denn nicht an, wenn sie den Sturm abwartet?“
„Weil unser Telefon kaputt ist, Dummchen!“
„Ich bin nicht dumm, ich bin schon erste Klasse!“
„In Ordnung, tut mir leid, du bist nicht dumm.“ Bloß keinen Streit anfangen, dachte Tom, eine heulende Lena ist das Letzte, was ich brauchen kann.
Da klingelte es an der Tür.
Die Kinder sahen sich an. Sie durften die Tür nicht aufmachen, wenn sie allein waren.
„Wir sind einfach nicht da“, flüsterte Lena.
„Wir legen die Kette vor und schauen mal nach,“ flüsterte Tom.
„Kinder, kommt zur Tür!“, rief eine Stimme von draußen. „Ich weiß doch, dass ihr da seid!“
„Der Troll!“, flüsterte Lena entsetzt.
Der Troll hieß eigentlich Herr Schwesig und war ihr unfreundlicher Nachbar. Als die Familie neu eingezogen war, hatte er immer gemeckert, wenn die Kinder im Garten getobt hatten, bis Mama ihn zur Rede gestellt hatte. Jetzt guckte er nur noch böse und Bälle, die aus Versehen über den Zaun flogen, gab er nie zurück. Tom hatte erklärt, dass nur Gebirgstrolle so böse waren und dass Herr Schwesig in Wirklichkeit so ein Troll war, der verkleidet unter den Menschen lebte. Abends dachte er sich oft gruselige Geschichten über ihren Nachbarn aus, die er Lena dann erzählte.
Nur zögernd ging er jetzt zur Tür. Er legte die Kette vor und öffnete dann einen Spalt.
„Na endlich!“, knurrte der Troll. Er streckte Tom ein Handy hin. „Hier, nimm. Eure Mutter ist dran. Sie hat bei mir angerufen, weil eurer Telefon ja nicht geht.“
Tom nahm das Handy entgegen. „Hallo?“
„Tom, hier ist Mama. Ich möchte, dass du mir gut zuhörst. Als erstes lässt du Herrn Schwesig ins Haus, damit der nicht in der Kälte stehen muss.“
Tom öffnete die Tür, während er weiter zuhörte.
„Im Radio haben sie gesagt, dass die gesamte Bundesstraße zugeschneit ist. Ich kann hier also nicht weg und übernachte bei Dorothee.“ Dorothee war eine Freundin aus dem Nachbardorf.
„Herr Schwesig wird bei euch schlafen. Möglicherweise fällt der Strom aus und dann habt ihr bei uns wenigstens den Kamin zum heizen. Mach bitte das Gästezimmer zurecht, stell Kerzen heraus und lade die Akkulampe auf, solange noch Strom da ist. Kann ich mich auf dich verlassen?“
Tom schluckte. „Aber morgen kommst du zurück, ja? Morgen ist doch Weihnachten!“
„Oh Tommy, ich hoffe es. Der Sturm muss erst einmal aufhören, und dann müssen die Straßen geräumt werden.“ Mama klang jetzt ein wenig zitterig.
Tom fühlte einen großen Klumpen in seinem Hals. Er schluckte. Weihnachten ohne Mama? Und statt dessen mit dem Troll? Obendrein, wenn Mama schon nicht aus dem Nachbardorf kommen konnte, dann würde Papa erst recht nicht heimkommen können. Er war ja viele hundert Kilometer fort auf Montage.
„Tommy?“ Mama wartete auf eine Antwort. Und plötzlich wusste Tom, dass die ganze Situation für Mama genau so schlimm war, wie für Lena und ihn. Und dass es an ihm lag, es für alle etwas leichter zu machen.
„Wir kommen bestimmt gut zurecht. Ich bin ja schließlich in der fünften Klasse. Ich kümmere mich um alles.“
„Gut, ich rufe später noch mal an.“ Damit legte sie auf.
Tom gab das Handy an Herrn Schwesig zurück.
„Mama hat gesagt,dass Sie hier schlafen.“
Herr Schwesig nickte. Dann ging er nochmal zu seinem Haus hinüber, um alles abzuschließen.
Tom und Lena richteten das Gästezimmer und luden die Lampe. Sie verteilten Kerzen und Streichhölzer im ganzen Haus. Dann warteten sie. Und dann ging das Licht aus.
„Sieht so aus, als hätte der Sturm die Leitung beschädigt“, erklärte Tom so selbstverständlich wie er konnte, als Lena erschrocken aufschrie. Die Kinder gingen zur Tür, um den Troll zu hören, wenn er klopfen würde. Die Zeit wollte nicht vergehen.
Endlich kam Herr Schwesig. Er war beladen mit Campingsachen. Ein kleiner Gaskocher, eine Lampe, die er gleich einschaltete, ein Rucksack.
„Was sitzt ihr denn hier im Dunkeln? Kommt mit ins Wohnzimmer, dann wollen wir mal sehen, ob wir euren Kamin bei diesem Sturm an bekommen.“
Sie entzündeten Kerzen, aber der Kamin wollte nicht brennen.
„Macht nichts, es ist ja ohnehin fast Abendessenszeit.“
„Werden wir erfrieren?“, fragte Lena.
„Nein Herzchen, ihr habt eine so dicke Isolierschicht auf eurem Haus, das kühlt nicht einmal in einer Woche so stark aus. Wir essen jetzt, dann lese ich euch noch etwas vor und dann geht ihr schön mollig ins Bett. Sucht schon mal eure Lieblingsgeschichte raus.“
Die Kinder sahen sich an. Was war denn in den Troll gefahren? Er war ja auf einmal richtig nett!
Nach dem Essen und der Geschichte brachte Herr Schwesig Toms Matratze und sein Bettzeug in Lenas Zimmer. „Ich glaube, das ist gemütlicher für euch. Die Lampe auf dem Flur lassen wir an, dann findet ihr euch zurecht, wenn ihr wach werdet. Und ruft mich, wenn etwas ist. Morgen sieht die Welt bestimmt ganz anders aus.“
Als Lena ihm einen Gute-Nacht-Kuss gab, machte er ein ganz komisches Gesicht und verließ schnell das Zimmer.
Die Kinder redeten noch eine kleine Weile miteinander, aber nach all der Aufregung waren sie müde und schliefen schnell ein.