
Am Morgen sagte Lenas Mutter:
„Liebes, die Station hat gerade angerufen. Ich muss heute Nachmittag arbeiten. Schade, ich wollte so gerne mit dir Plätzchen backen. Jetzt ist das geplatzt.“
Na großartig, dachte Lena. Nicht dass sie Zeit zum Plätzchen backen gehabt hätte, aber ihre Mutter kannte Markus. Jetzt konnte er nicht bei der Befreiungsaktion mitmachen.
Das war bitter. Emma und die Wichtel waren vollständig auf sich gestellt.
Am Nachmittag trafen sich alle wie verabredet im Gartenhaus. Eisbart war auch da. Die Wichtel hatten wieder alles aufgeräumt, nichts erinnerte an ihren Aufenthalt. Lena berichtete kurz, was geschehen war.
„Das ist vielleicht gar nicht so schlimm. Es wäre ohnehin nicht so gut, wenn jemand Menschen mit dieser Angelegenheit in Verbindung bringen kann. Außerdem sind die Rentiere ziemlich unruhig. Sie haben zu lange gestanden und spüren, dass etwas in der Luft liegt. Es ist besser, wenn Markus die ganze Zeit bei den Rentieren bleibt, statt in die Klinik nachzukommen, wie ihr das ursprünglich geplant hattet“, meinte Eisbart. „Wir haben ohnehin schon beschlossen, dass auch Svea besser beim Schlitten und den Rentieren bleibt. Sie kennt sich gut mit ihnen aus, und außerdem ist sie mit ihrem Gips einfach nicht schnell genug, wenn wir mit dem Weihnachtsmann fliehen.“
„Also dann los“, sagte Lasse, „brechen wir auf“.
Der Schlitten stand draußen. Alle stiegen ein und fuhren zur psychiatrischen Klinik.
Es war verabredet, dass Markus und Lena den Rentierschlitten bewachen sollten. Dafür hatten sie sich Elfenkostüme zuammengestellt. Markus montierte die spitzen Ohren, die eigentlich von einem Star Trekk Kostüm stammten, an Lenas Ohren. Sie trug rote Hosen und eine grüne Jacke. Markus hatte seine Ohren bereits aufgesetzt. Er hatte einen roten Skipulli mit Norwegermuster an.
„Ich hoffe, damit kommen wir durch. Und vor allem der Tierschutzverein erwischt uns nicht. Es ist sicherlich verboten, mit Rentieren Schlitten zu fahren.“
Sie hatten geplant, dass er und Lena unten vor der Klinik warteten, während die Wichtel, jetzt also nur Eisbart und Lasse, Emma besuchten und dabei den Weihnachtsmann befreien würden. Markus und Lena würden so tun, als ob sie Werbung für den Weihnachtsmarkt machten. Svea hatte behauptet, je auffälliger die Tarnung sei, desto weniger Beachtung würde man ihnen schenken. Und später würde niemand zugeben, er habe den Weihnachtsmann in einem Schlitten mit Rentieren fliehen gesehen, das klang viel zu absurd.
Svea musterte die beiden „Elfen“ kritisch. „Ich wüsste gerne, was ihr immer mit euren Ohren habt. Ich habe doch keine spitzen Ohren!“
„Wir sind ja auch keine Wichtel, sondern Elfen“, erklärte Markus würdevoll.
„Und ihr glaubt, die hätten spitze Ohren? Das haben sich Tolkien und Disney bloß so ausgedacht. Die haben keine Ahnung. “
„Und du weißt das natürlich.“
„Klar.“
„Ruhe auf den billigen Plätzen!“ und „Hört auf zu streiten!“, riefen Lena und Lasse gleichzeitig. „Wir sind alle nervös“, sagte nun auch Eisbart, „und es wird nicht besser, wenn ihr aufeinander herumhackt. Svea, ich verstehe deine Enttäuschung darüber, dass du nicht mit auf die Station darfst, aber ich brauche jemanden, der dafür sorgt, dass die Rentiere sofort losfliegen können, sobald wir den Schlitten erreichen. Ich möchte, dass du wirklich direkt auf dem Kutschbock sitzt und dich von dort auch nicht wegbewegst. Unter Umständen musst du allein mit dem Weihnachtsmann aufbrechen, wenn irgend etwas schief geht und Lasse und ich nicht schnell genug zum Schlitten kommen. Ich verlasse mich auf dich. Das allerwichtigste ist, den Weihnachtsmann zum Nordpol zu schaffen, egal, was mit uns passiert.“
Svea nickte leicht beklommen. Das war eine ganz schön große Verantwortung, die sie gerade aufgeladen bekam.
Die beiden Wichtel gingen in die Klinik. Emma begrüßte „Onkel Eisbart“ und den „Großneffen“ entzückt. Sie stellte ihnen den Weihnachtsmann vor, der sogleich eine Geschichte erzählte.
Unten standen unterdessen Markus und Lena vor dem Schlitten und verteilten Flyer.
„Die sind ja von unserer Schule“, stellte Markus fest.
„Ja, na klar. Morgen ist doch unser Weihnachtsmarkt. Und in der Eingangshalle lagen noch so viele Flyer herum, die habe ich einfach mitgenommen. Wenn wir schon Werbung machen, dann doch wohl für uns!“ Lena wirkte mit sich selbst durchaus zufrieden.
Die Leute auf der Straße blieben neugierig am Schlitten stehen, stellten Fragen und nahmen Flyer mit. Einige machten Selfies mit den Rentieren.
„Oh ooooh!“, sagte Markus plötzlich. „Schau mal, wer da kommt!“
„Och nee, ausgerechnet der“, stöhnte Lena. Nils, der Idiot, kam auf sie zu. Er schob einen Buggy mit einem Kleinkind darin. In sicherer Entfernung blieb erstehen.
„Schau mal, Tibby, das sind die Rentiere vom Weihnachtsmann mit seinem Schlitten“, sagte er. Das Kind schlüpfte aus dem Wagen und rannte wieselflink auf den Schlitten zu.
„Tabea, nein!“, schrie Nils. Die Kleine blieb kurz stehen, drehte sich zu dem älteren Jugen um und rief „ Ei-ei-machen“, bevor sie weiter lief. Lena ging in die Hocke und fing das Kind auf. „Na, wen haben wir denn da?“, sagte sie. „Hör mal meine Kleine, du kannst nicht so einfach auf fremde Tiere zulaufen. Die kennen dich doch gar nicht und haben vielleicht Angst vor Dir. Und es kann passieren, dass sie dich vor Schreck dann beißen.“
Nils war herangekommen. Er löste die kleine Tabea aus Lenas Armen und schwang sie sich auf die Hüfte. Man merkte, dass er Übung darin hatte. „Entschuldigen sie bitte“, fing er an, dann erkannte er, wer da vor ihm stand. „Lena, bist du das? Dann ist doch sicher Markus auch nicht weit. Junge, ihr seht so bescheuert aus in diesen Kostümen.“ Das Kind in seinen Armen begann herum zu zappeln. „Ei-ei machen!“, forderte sie mit Nachdruck.
„Darf sie? Bitte?“ Nils wirkte ein bisschen verlegen.
„Aber sicher“, meldete sich jetzt Svea vom Kutschbock. „Kommt mal hier vorne hin, zu Polarlicht, der ist etwas älter und sehr geduldig. Außerdem mag er Kinder. Lena, wenn du ihn trotzdem sicherheitshalber am Zaumzeug festhältst?“
Das kleine Mädchen streichelte begeistert das weiche Fell. „Hoppa hoppa“, rief sie dann.
„ Tibby, man muss nicht alles reiten. Was hältst denn davon, wenn ich dich auf dem Heimweg Huckepack nehme?“
„Du kannst sie ruhig draufsetzen“, ließ sich Svea nun vernehmen, „aber halt sie gut fest.“
Nils setzte die Kleine vorsichtig auf das Rentier. „Kannst du Polarlicht bitte auch gut festhalten?“, bat er Lena.
Die lächelte freundlich. „Du bist wohl doch kein solcher Idiot, wie ich immer dachte, so nett, wie du mit deiner Schwester umgehst.“
Nils räusperte sich. „Ich muss Nachmittags immer auf Tibby aufpassen, weil meine Mom nur für den Vormittag einen Kita-Platz bekommen hat. Da habe ich nicht so viel Zeit für Freunde. Ich glaube, ich bin einfach eifersüchtig. Es tut mir leid.“
Jetzt mischte sich Markus in das Gespräch. „Wie alt ist denn deine Schwester?“
„Gerade zwei.“
„Meine ist fünf und geht bei uns in der Schule in die Kita. Trotzdem muss ich häufig Babysitten. Wir könnten und zusammentun, wenn du magst.“
Nils strahlte. „Echt? Das würdest du tun?“
Die beiden verabredeten sich gleich für den nächsten Tag, dann verabschiedete Nils sich von ihnen.
Oben auf der Station bereiteten sich Eisbart und Lasse auf den Aufbruch vor. Der Weihnachtsmann und Emma begleiteten sie zur Tür .
Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Man hörte einen scharfen Knall und aus einer Ecke des Raumes quoll dunkler Rauch. Ein Feuermelder begann schrill zu piepen und Panik brach aus. Emma klammerte sich kreischend an den Pfleger, der gerade die Tür der Station aufgeschlossen hatte.
„Schnell!“, sagte der Weihnachtsmann. Er eilte die Treppe herunter. Die anderen folgten. Die Treppe begann sich mit Menschen zu füllen. Das Gebäude wurde geräumt.
Der Weihnachtsmann und die Wichtel stürmten aus der Tür auf den wartenden Schlitten zu, Eisbart packte die Zügel und schon fuhr der Schlitten los. Markus und Lena, die die Rentiere festgehalten hatten, konnten nur beiseite springen. Sie sahen dem Schlitten nach, wie er die Straße herabfuhr. Mit einem Mal hob er ab und flog davon.
Schweigend gingen die beiden Kinder nach Hause. Sie fühlten sich merkwürdig leer und es gab ja auch nichts zu sagen.
Am nächsten Morgen gab es eine Überraschung. Irgendjemand hatte ihre Haustüren wunderschön mit Kränzen und Sternen aus Zweigen, Ranken und Beeren geschmückt.
Als sie Nachmittags noch einmal zum Gartenhäuschen gingen, lagen dort auf dem Tisch Sveas restliche Karten und ein Umschlag mit etwas Geld. Svea hatte dazu geschrieben: „Vielen Dank für Eure Hilfe. Euer Geld bauchen wir am Nordpol nicht, und ich bin froh, das ihr so euer Taschengeld zurückbekommen könnt. Die Karten könnt ihr vielleicht für Euren Weihnachtsmarkt brauchen.“
Die restliche Adventszeit ging schnell vorbei. Der Schulweihnachtsmarkt, Sveas Ballet-Aufführung und der letzte Schultag vor den Ferien kamen und gingen.
Am Heiligabend fanden Lena und Lasse ein zusätzliches Geschenk unter dem Tannenbaum, von dem keiner sagen konnte, woher es kam. Lena bekam ein Paar Socken mit eingestrickten Wichteln, Markus fand Rentieresocken in seinem Päckchen. „Damit ihr uns nicht vergesst,“, hatte Svea dazugeschrieben. Lena fand außerdem einen kleinen Brief.
Liebe Lena, stand darin, den Engel im Paket für deine Mutter hat der Weihnachtsmann in einer eurer Zeitschriften entdeckt. Ich dachte mir, du würdest vielleicht die verschwundenen Gipsbinden erklären müssen.
Auch Emma fand einen Brief. Als auf der Station Ruhe eingekehrt war, verzog sie sich in ihr Zimmer, um ihn zu lesen.
Liebe Emma,
wenn Wichtel ein Geschenk anfertigen, dann können sie es immer wieder finden. Auf diese Weise habe ich durch das Kleid, das sie für sie genäht haben, deine Puppe gefunden. Ich dachte mir, du würdest gerne wissen, was aus ihr geworden ist. Sie wurde an eine Familie gegeben, die nach Deutschland geflohen war und buchstäblich nichts außer ihrer Kleidung am Leib besaß. Das kleine Mädchen, das sie bekam, war so glücklich darüber und die Puppe wurde ihr liebster Besitz. Heute schenkt sie sie an ihre kleine Tochter weiter, die sich sicher auch sehr darüber freuen wird.
Alles Liebe, dein Freund, der Weihnachtsmann