Als der Weihnachtsmann verhaftet wurde: 14. Dezember

Der Weihnachtsmann war wieder in die psychiatrischen Klinik zurückgebracht worden. Er saß im Aufenthaltsraum der geschlossenen Station und blätterte in einer Zeitschrift.
Da trat eine junge Frau auf ihn zu.
„Weihnachtsmann, kannst du mir eine Geschichte erzählen?“
Er war nicht sicher, ob sie ihm glaubte oder nicht. Das war hier auch egal.

Die Patienten auf dieser Station akzeptierten die Eigenheiten der anderen. Wenn jemand der Meinung war, er sei der Weihnachtsmann, dann war er eben der Weihnachtsmann und Schluss. Keine Fragen, keine Diskussion. Diskutieren musste man mit den Ärzten, die Mitpatienten ließen einen in Ruhe.
„Warum möchtest du eine Geschichte hören?“
„Meine kleine Tochter kommt mich heute besuchen, und sie liebt Geschichten. Aber ich weiß keine mehr.“
„Warum bist du hier?“ Eigentlich war das eine verbotene Frage. Man fragte so etwas hier nicht. Die junge Frau zögerte. Dann sagte sie:
„Ich bin dick und hässlich.“
Der Weihnachtsmann musterte die blasse, magere Gestalt.
„Ist das so? Ich finde, dass Du ein sehr hübsches Lächeln hast und wunderschöne Augen. Sie erinnern mich an Haselnüsse. Nüsse erinnern mich an eine Geschichte, die ich einmal erlebt habe. Sie handelt von einer sehr hungrigen kleinen Maus. Ist das in Ordnung für dich?“
„Das ist schon O.K. Meine Tochter liebt Mäuse.“
„Ich erzähle sie Dir so, wie die Menschen sie sich erzählen.“
Und der Weihnachtsmann begann:


Der Weihnachtsnussbaum

Tief im Wald steht ein alter Nussbaum. Alle Leute nennen ihn den Weihnachtsnussbaum, aber kaum jemand weiß, wo man ihn finden kann, denn er steht weitab von allen Wegen. Nur die Förster, die den Wald kennen, wie ihre Hosentasche, kommen ab und zu bei ihm vorbei. Woher hat der Baum aber seinen merkwürdigen Namen? Dazu erzählt man sich die folgende Geschichte:
Vor vielen Jahren ging der Weihnachtsmann durch den tief verschneiten Wald. Er war im Forsthaus gewesen und hatte für die Kinder Geschenke da gelassen. Der Schnee lag so hoch zwischen den Bäumen, dass er mit dem Schlitten nicht durchgekommen war. Also hatte er ihn am Waldrand zurückgelassen und war zu Fuß gelaufen. Nun stapfte er zurück und merkte gar nicht, dass er verfolgt wurde. Eine kleine, hungrige Maus hatte mit ihrer empfindlichen Nase die Äpfel, die der Weihnachtsmann in seinem Sack mit sich herumschleppte, gerochen. Wie gerne hätte sie jetzt in so einen Apfel gebissen!
Da auf einmal schien es, als ob sie Glück haben sollte. Erschöpft vom Laufen durch den tiefen Schnee, machte der Weihnachtsmann auf einer Lichtung halt und setzte sich auf einen Baumstumpf, um sich kurz ein wenig auszuruhen. Den Sack stellte er neben sich in den Schnee. Sofort huschte die Maus herbei und begann, ein Loch in den Sack zu nagen. Aber ach, bevor sie noch an die Köstlichkeiten aus dem Sack gelangen konnte, stand der Weihnachtmann schon wieder auf, um weiter zu gehen. Und schlimmer noch, er bemerkte das Loch und die Maus. Sie war so erschrocken, dass sie nicht einmal davonlaufen konnte. Blitzschnell wurde sie gepackt und hoch gehoben. Die Maus kniff ihre Augen fest zusammen.
Eine freundliche Stimme sagte: „Na, du kleiner Kerl, was machst du denn mit meinem Geschenksack? Du hast wohl Hunger, was? Aber deshalb kannst du mir trotzdem keine Löcher hinein knabbern. Na, ja, zum Glück ist das Loch so klein, dass wohl nichts herausfallen wird. Warte mal.“
Damit setzte der Weihnachtmann die Maus wieder zu Boden. Sie hatte immer noch die Augen fest geschlossen. Sie hörte, wie der Weihnachtsmann mit seinem Sack herum hantierte und dann, wie er durch den Schnee davon stapfte. Schließlich war nichts mehr zu hören, nur der köstliche Apfelduft hing noch in der Luft. Vorsichtig öffnete die Maus die Augen. Da lag direkt vor ihr ein dicker, roter Apfel im Schnee. Weil sie vor lauter Angst die Augen zugekniffen hatte, hatte sie nicht gesehen, wie der Weihnachtsmann den Apfel aus dem Sack geholt und ihr hingelegt hatte. Sie hatte ebenfalls nicht bemerkt, wie aus dem Loch im Sack eine Nuss heraus in den Schnee fiel, als er die Lichtung verließ.
Während des ganzen Winters wurde diese Nuss von keinem einzigen Tier gefunden, und als der Frühling kam, keimte diese Nuss aus. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sich zu einem mächtigen Nussbaum, der jedes Jahr voller Nüsse hing. Das Besondere an diesem Baum jedoch war, dass diese Nüsse nie im Herbst abfielen. Erst am Heiligabend fielen sie herunter und ernährten alle die kleinen Tiere, die sich unter dem Baum einfanden. Darum wurde er der Weihnachtsnussbaum genannt.

Der Weihnachtsmann verstummte und sah auf. Die junge Frau lächelte. Andere Patienten waren näher gekommen, um zuzuhören und verstreuten sich nun wieder. Während er Weihnachtmann erzählt hatte, war es draußen dunkel geworden. Er trat ans Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. In den Häusern vor der Klinik gingen die Lichter an. In den Fenstern sah er bunte Sterne und auch welche aus Stroh, Kugeln und Schneekristalle aus Papier. Die Menschen bereiteten sich auf Weihnachten vor und er saß hier fest. Wo war nur Eisbart, wo seine Wichtel? Er fühlte sich auf einmal sehr mutlos und einsam.

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